Die Erlösung

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Beitrag zu unserem Geschichtenwettbewerb Ostern 2020

Die ganze Nacht war es bereits windig und Wolken jagten über den Himmel.
Frühherbst – die Zeit der Stürme. An diesem grauen Morgen fuhr kein Fischer, der
halbwegs bei Verstand war, raus.
Um genau zu sein gab es nur einen einzigen Mann, der das tat. Ein Schuldner, der
das Geld dringend brauchte. Es ist der alte Jorge. Früher war er der starke Jorge, der
ehrliche Jorge, der erfolgreiche Jorge, der ruhmreiche Jorge. Jetzt war nur noch der
alte Jorge. Seit dem Tod seiner Frau war er überhaupt nicht mehr der, den alle
bewunderten. Er war nur ein Spieler. Obendrein einer ohne Glück. Er war jemand,
der mal war und jetzt nicht mehr ist. Als jemand der nicht mehr ist, ist man nicht viel.
Höchstens ein „man“, eher jedoch ein „niemand“. Keinesfalls jedoch ein „er“ mit
Namen.
Vergangene Zeiten. Verspielte Zeiten. Er brauchte das Geld. Oder ihm würde seine
heruntergekommene Hütte unterm Hintern wegverpfändet und er in den Schuldturm
geworfen werden. Vielleicht würden die Richter ihn auch rudern lassen. Jorge war
stark. Alt, aber immer noch stark.
Was auch immer die Strafe wäre, sie wäre qualvoll und auf Dauer tödlich. Er musste
seine Schulden begleichen! Und dann? Was sollte aus einem Niemand wie ihm
werden? Ein Nichts?
Vielleicht nahm ihn ja ein Kloster… Er war ein Sünder. Das wusste er. Aber vielleicht
erhielt er eine Chance.
Warum war er auf einmal so sentimental? Früher hatte ihn Gott auch einen
Scheißdreck interessiert! Ok, er war immer in der Kirche, als seine Frau noch lebte.
Aber Kinder hatte ihm das nicht beschert!
Der Mann erreichte seine Netze. Seine Arme schmerzten ihn als er sie herausholte.
Er seufzte. Wie viel leichter es doch noch war als er noch Lehrlinge gehabt hatte.
Aber kein liebender Vater schickt seine Söhne zu einem wie ihm. Zu einem Niemand.
Der Fang, den Jorge einholte, war gut. Sehr gut sogar. Er würde reichen. Für einen
weiteren Monat. Wenn er noch extra arbeitete, vielleicht sogar für zwei. Die anderen
hatten wohl auch gut gefangen. Doch sie würden nicht rausfahren. Sie hatten ihn für
lebensmüde erklärt. Keiner von ihnen würde es bemerken. Er ruderte zu den
anderen Netzen. Wirklich – sie waren gut gefüllt. Jorge legte sich in die Riemen. Er
musste sich beeilen. Der Himmel verdunkelte sich bereits und von Ferne hörte er ein
tiefes Grollen, wie von einem Steinabrutsch.
Doch das Boot war schwer. Die Fische drückten es tief ins Wasser und die Ruder
ließen sich nur schwer durchs Wasser ziehen. Wellen schlugen ans Boot. Dunkelheit
griff mit langen Fäden nach dem alten Mann. Sie hielt ihm die Augen zu. Kroch in
sein Herz. Verdeckte das Festland. Ein Netz fiel aus dem Fischerkahn. Ein Ruder
schlug ans Boot und zerbrach. Jorge entglitt auch das andere. Es war zu schwer
gegen die Wellen und er war zu alt. Alt und schwach.
Er zitterte. Übelkeit kroch in ihm hoch. Es begann zu regnen.

Wasser von oben, Wasser von unten. Überall Wasser. Ohne Entkommen. Wellen
schlagen auf das morsche Boot ein. Immer wieder. Ohne Erbarmen. Ein Splittern, ein
brechen. Holzreste treiben um ihn her. Jorge packt eine Planke. Der Wind peitscht
hart über ihn hinweg. Tropfen bohren sich messerscharf in seine Haut. Er schreit.
Der Ozean bahnt sich einen Weg in seine Lungen. Er sinkt. Er strampelt. Taucht auf.
Etwas zieht in abwärts unaufhörlich. Es brennt in seiner Brust. Luft! Wo ist sie? Er
atmet. Ist er über oder unter Wasser? Alles ist so schwarz. Plötzlich ein grässlicher
Schmerz. Dann ist alles stumm. Aber nur kurz. Ein Pfeifen setzt ein. Der Sturm ist
weg. Nur noch Schwärze um Jorge. Ein paar Lichtpunkte tanzen vor den brennenden
Augen des Mannes. Sterne? Es waren doch Wolken am Himmel. Wo war der
eigentlich? Irgendwas griff nach ihm. Schlingpflanzen? Im Himmel? Ein jäher
Schmerz. Grelles Licht. Ein letzter Schrei.
Der Blitz war nur einer von vielen. Die Leiche wurde nie geborgen. Es hat sich auch
keiner die Mühe gemacht sie zu suchen. Wen interessiert auch schon ein Nichts?

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